Vicente Huidobros Roman »Cagliostro« ist ein einzigartiger Text. Ursprünglich entstand er 1923 als Drehbuch, das Huidobro zehn Jahre später in einen Roman umschrieb. In ihm vereint Huidobro verschiedene literarische Gattungen, streift durch die Geschichte, berührt philosophische Fragen und unternimmt gleichzeitig formale wie sprachliche Experimente. Trotz eines ästhetisch aufgeladenen Unter- baus ist »Cagliostro« ein leicht zu lesender, äußerst unterhaltsamer Roman, der nicht nur mit sprachlicher Virtuosität, sondern auch mit Humor und Spannung auftrumpfen kann. Huidobro verdichtet das sagenumwobene Leben seines titelgebenden Protago- nisten Cagliostro zu einer Geschichte über die Hybris des Menschen, seiner Korrumpierbarkeit und den im 18. Jahrhundert sehr populären Okkultismus. Bereits 1916 betitelte Huidobro ein Werk mit „okkult“, erklärte aber umgehend, dass er damit das tiefe Geheimnis der Sprache meine und er die Tür zum Myste- rium der Sprache stets geöffnet vorfand. Dieses von ihm als junger Poet gespürte Talent sollte in eine Reife übergehen, die die Avantgarde, wie sie in Europa auf- brach, facettenreich mitprägte. Die Sprache des prosaischen Texts ist geprägt vom Creacionismo, einem lyrischen Stil, den Huidobro in mehreren Manifesten begründet hat. Anspruch dieses Stils ist es, Welt durch Sprache zu erschaffen. Dafür verfährt Huidobro jenseits aller Konventionen und Logiken und entwirft sprachliche Bilder, die sich nicht aus der Wirklichkeit ableiten lassen: „Der Mond tickt wie eine Uhr“ (1918). Da der Creacionismo vornehmlich in Gedichten verwirklicht wurde, stellt »Cagliostro« einen literaturgeschichtlich seltenen Moment dar. Hier wird der Lyrikstil in einen Prosatext eingebunden mit einem Resultat, an dem Huidobros singuläre literarische Fähigkeiten erkennbar werden: „Ein paar halbleere Wolken ziehen weiter auf ihrem Pfad, während andere sich als Tränen funkelnde Taschen- tücher an die Gipfel schmiegen und einen feuchten Abschied winken“. Ein herausstechender Aspekt von »Cagliostro« ist außerdem sein Genre, das Huidobro „novela-film“ nannte; eine Mischung aus Kinofilm und Roman. Ohnehin war der Roman zunächst als Drehbuch konzipiert, und zwar zu einer Zeit, in der der Tonfilm im Begriff war, den Stummfilm abzulösen. Der Text ist daher durchsetzt von Regieanweisungen, szenischen Beschreibungen und humorvollen Hinweisen an die Leserschaft, die visuelle Orientierung leisten sollen. Beispielsweise wenn zum ersten Mal die schöne Lorenza auftaucht und der Erzähler den Hinweis gibt: „Liebe Leser, stellen Sie sich die schönste Frau vor, die Sie je gesehen haben, und übertragen Sie deren Schönheit auf Lorenza. Damit ersparen Sie mir und sich selbst eine langwierige Beschreibung“. Es ist dieses Spiel mit Konventionen und Klischees, sei es über die Mystik, die Wissenschaft oder die Liebe, die den Roman zu einem Lesevergnügen machen. Zudem ist es beeindruckend, zu welch früher Zeit Huidobro die Anfälligkeit für klischeehafte Motive im Film erkannt hat, ein Medium, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen über die verblüffend gut funktionierende Generierbarkeit von Kunst durch KIs wirkt sein Blick umso weitsichtiger.
Besonders ist auch Huidobros Umgang mit dem Themenkomplex des Okkultis- mus, welcher damals wie heute die Massen zu faszinieren wusste. Weder affir- miert Huidobro okkulte Vorstellungen, noch parodiert er sie. Er formt sie in ein literarisches Gedankenspiel um, das den Reiz dieser Ideen veranschaulicht. Was, wenn all diese okkulten Mythen wahr wären und mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft kollidieren würden? Einer der ab dem 18. Jahrhundert beliebten Zeitvertreibe, aber auch Sensationen, war die Automate. Diese Erfindung löste einen enormen Rummel aus und fügte sich in die Philosophie Descartes’ über Mensch und Seele. Was eigentlich Antipoden darstellte, der Rationalismus und der Okkultismus, gehörte dennoch ausgerechnet in die Zeit vor der Französischen Revolution, die auch eine Zeit großer technischer Neuerungen war. Der von Huidobro eingefädelte Auftritt ausgerechnet von Jean Paul Marat im Kreis einer Loge mag diese Antipoden in einer Figur vereinen, die Züge Cagliostros adaptierte wie auch die der Zäsur der bevorstehenden Revolution. So dämmert der ebenfalls auftretenden Marie Antoinette bei ihrer Begegnung mit Cagliostro der Untergang der französischen Monarchie. Der Text kreist außerdem um das Thema Macht und Machtmissbrauch. »Cagliostro« erzählt, zu was ein Übermaß an Macht den Menschen verleiten kann, wie Macht Vernunft und Zuneigung hinter sich lässt, um sich selbst zu potenzieren. Gleich- sam geht es um das klandestine Geschäftstreiben der Mächtigen, um elitäre Zusammenschlüsse, die eher klein-aristokratisch bis bourgeois als okkult sind und vor keiner Intrige zurückschrecken. Nicht nur für die Komparatistik, Hispanistik, Medien- und Literaturwissenschaft ist dies ein wertvoller Text, sondern auch für Leser:innen mit einem historischen Interesse, die sich für außergewöhnliche Sprachexperimente und Scharfsinn begeistern können.